Lit.Ruhr mit Spurensuchern, Kraftwerkern und Fetischisten
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Martina Schürmann
Handschlag: Vorleserin Jasmin Tabatabai (li.) verlieh der polnischen Literatur der Gegenwart ihre Stimme. Die Schriftsteller Ignacy Karpowicz, Leszek Zylinski und Moderation Olga Mannheimer gaben Kostproben in der Villa Hügel.
Foto: STEFAN AREND
Essen. Lit.Ruhr: Karl Bartos erzählt vom Klang der Maschine. Und Hannelore Hoger und Richy Müller machen ihr Publikum mit Latex und Leder glücklich.
Ein Lesefestival, das ins Ruhrgebiet kommt, muss kein Heimatfest regionaler Autoren sein. So wenig die Lit.Cologne für ein kölsches Szenetreffen stehe, so bewusst habe man beim Festival-Start im Revier auf lokale Matadoren verzichtet, hieß es vorab von den Programm-Machern. Aber irgendwann muss ja doch darüber gesprochen werden - über Kumpel, Kiosk und Strukturwandel.
Diese Aufgabe haben die Lit.Ruhr-Macher im ersten Jahr an vier Studenten des Literaturinstituts in Leipzig delegiert: Josefine Berkholz, Lara Hampe, Peter Lünenschloß und Ronya Othmann wurden in München und Berlin geboren. Auf das Ruhrgebiet haben sie fünf Wochen lang aus dem Fenster einer alten Steigervilla in Gelsenkirchen geblickt. Links die Halde, die Schalke-Arena nur ein paar Straßenbahnstationen weit entfernt. Wie sie die Klischees umkreist, das Authentische gesucht und bei ihrer Spurensuche doch viele Parallelen zu anderen Orten gefunden haben, das erzählen sie an diesem Abend auf Zollverein.
Senta Berger liest Elena Ferrante, auf Deutsch, mit italienischen Einsprengseln
Der Zuhörerkreis ist konzentriert, aber klein, was nicht wundert. Ein paar Meter weiter wird ein literarischer Mega-Erfolg von einer der größten deutschen Schauspielerinnen vorgetragen. Senta Berger liest Elena Ferrante, auf Deutsch, mit italienischen Einsprengseln. Zwei vertraute Größen, die ihr Publikum nicht enttäuschen – ebenso wenig wie Sven Regener, der mit den launig vorgetragenen Abenteuern seines Herrn Lehmann derzeit landauf, landab die Säle und Talkrunden-Studios rockt und auch an diesem Abend um eine Zugabe nicht herumkommt.
Von einer echten Musiker-Karriere kann zwei Hallen weiter Karl Bartos erzählen. Der gelernte Fernmeldemechaniker, studierte Orchestermusiker und langjährige Kraftwerk-Schlagzeuger hat sein Leben auf 600 Seiten ausgebreitet. Zusammen mit 1Live-Moderator Klaus Fiehe durchblättert der 66-Jährige seine „Klangbiografie“ vor kundigem Publikum. Vom ersten Beatles-Akkord, der alles in Gang setzt, zum Beach-Boy-Konzert in Amerika, das alles verändert. Vom Orchestergraben, in dem Bartos zunächst als klassischer Musiker sitzt, zum legendären Kling-Klang-Studio. „Der Klang der Maschine“ heißt Bartos’ Buch, aber dank seines sorgsam geführten kalendarischen Tagebuchs ist alles schön menschlich. Seine Erzählung skizziert ein Leben, das 1967 im Jugendtanzcafe beginnt und über die „Autobahn“ zur Weltkarriere führt.
Fuß-Fetischisten, Freud und BVB-Bettwäsche
Die Ausbildung an der Querflöte lässt tags drauf dann auch Heinz Strunk im Salzlager der Kokerei Zollverein durchklingen. Der Entertainer, Bestsellerautor, Popsatiriker und Erfinder einer tragikomischen Romanfigur namens Jürgen Dose erzählt von der unerfüllten Liebe in Zeiten der mütterlichen Pflegebedürftigkeit, während Hannelore Hoger und Richy Müller erotisch schon weiter sind. „Ich bin so wild nach deinem Gummihund!“, heißt ihr Thema. Es geht um Fuß-Fetischisten, Freud und all die historisch verbürgten Erregungen dank Latex und Leder.
Moderator Jörg Thadeusz bekennt, seine Nächte jahrelang mit BVB-Bettwäsche reizvoller gestaltet zu haben. So ist das Ruhrgebiet am Ende doch noch für eine Ausschweifung gut.