Essen. Beim ersten großen Treffen seit langem arbeiten die Genossen sich nicht nur an der Konkurrenz ab. Man sucht die Offensive. Und den OB-Kandidaten.
Es ist ja nicht so, dass sie sich in Corona-Zeiten gar nicht mehr über den Weg gelaufen sind. Aber dieser SPD-Parteitag am Samstag im Ruhrturm ist der erste, bei dem die Genossen, die so gerne „nah bei den Menschen“ sind, auch wieder nah beieinander sein können, statt nur auf PC-Kacheln zu schauen: „Parteitage fühlen sich an wie nach Hause zu kommen“, sagt deshalb der Chef der Ratsfraktion Ingo Vogel man beschwört den Zusammenhalt, zieht über die doofen Nachbarn her, und wenn’s gut läuft, wird Tacheles geredet, auch wenn’s weh tut. Gründe gibt es für Essens Genossen genug.
Denn drei mehr oder weniger vermasselte Wahlen liegen hinter ihnen: Nur zweiter Sieger im Rat, weit abgeschlagen bei der OB-Wahl, und zuletzt die Landtagswahl versemmelt – da bleibt dem alten und neuen Vorsitzenden Frank Müller nur, „dankbar (zu sein), dass ein Sozialdemokrat die Bundesregierung führt“, auch wenn der Südwahlkreis erneut an die CDU ging. Und, ja: Immerhin schippere die SPD nach all den „turbulenten Zeiten“ vergangener Jahre mittlerweile in ruhigen Polit-Gewässern.
„Wir müssen raus aus der eigenen Blase, auch wenn es schwerfällt“, sagt der Vorsitzende
Allein: „Es darf keine Grabesstille daraus werden“, warnt Müller, und deshalb gibt es nach einer erwartbaren Dosis Schelte für die schwarz-grüne Rats-„Koalition der Prüfaufträge“ und den amtierenden Oberbürgermeister, der mehr „heiße Luft und keine rote Linie oder Leitbild für die Stadt“ erkennen lasse, auch eine gehörige Portion Selbstkritisches: „Wir müssen uns selber aus dieser Lage befreien, wir müssen raus aus der eigenen Blase, auch wenn es schwerfällt“, redet Müller der Genossenschar ins Gewissen.
Ganze Milieus habe die örtliche Sozialdemokratie verloren, Menschen, die jetzt „von denen angesprochen werden, die nichts Gutes im Schilde führen“: Müller, selbst Landtagsabgeordneter im NRW-Parlament, ist überzeugt: „So, wie es früher war, wird es nicht mehr werden. Wir können und müssen mehr tun, es gibt keine Ausreden mehr.“
Von einst 12.300 auf unter 3000 Mitglieder: „Ey Leute, wir sind nicht mehr so viele!“
Andere werden noch deutlicher: Es reiche eben nicht mehr, im Wahlkampf „zu tun, was wir schon immer getan haben“, mahnt der SPD-Europaabgeordnete Jens Geier: den roten Sonnenschirm aufspannen, ein paar Zettel zu verteilen – Geier wünscht sich neue Netzwerke, Angebote für jene, die keine Bindung mehr an die Sozialdemokratie haben, auch personell: „Unser Angebot“, so der 61-Jährige, „können nicht nur die dicken alten weißen Männer sein wie ich einer bin“.
Aber „wie wollen wir draußen überzeugen“, fragt Müllers Landtagskollegin Julia Kahle-Hausmann, wenn jedem Kritiker rundheraus bestätigt werde, wie Recht er mit seinen Anwürfen hat? Selbst im Vorfeld dieses Parteitags habe es – typisch Familientreffen? – Versuche gegeben, einzelne Kandidaten zu diskreditieren. Das gewohnte Mobbing, die Demotivation in den Ortsvereinen müssten endlich abgestellt werden, appelliert Kahle-Hausmann: „Ey Leute, wir sind nicht mehr so viele!“
Womöglich wird die OB-Kandidatur der SPD schon im ersten Halbjahr 2023 entschieden
Um genauer zu sein: Erstmals zählt die SPD zwischen Karnap und Kettwig weniger als 3000 Mitglieder, noch einmal fast 250 weniger als vor zwei Jahren. Zum Vergleich: Zu ihren besten Zeiten, Anfang der 1970er Jahre gab es noch über 12.300 Genossen in den eigenen Reihen. Aber Folklore sei eben „kein Zukunftskonzept“, mahnt Frank Müller achselzuckend, überzeugt, dass es die lokale politische Zeitenwende dennoch geben kann.
Wenn nur alle mitmachen. Schon Anfang Januar will er mit dem frisch gewählten Vorstand im Rahmen einer Haushalts-Klausur starten: „Wir haben 2025 fest im Blick“, das Jahr der Kommunalwahl. Am liebsten würde Müller auch die sozialdemokratische OB-Kandidatur schon im ersten Halbjahr 2023 festzurren. Dass noch einmal Awo-Geschäftsführer Oliver Kern antritt, der an diesem Samstagvormittag beim Treffen nicht teilnimmt, gilt vielen als abwegig. Zu niederschmetternd seine Niederlage gegen Thomas Kufen von der CDU vor zwei Jahren, dabei würden sie gerne wieder mal „krachend gewinnen“ – und danach in der Rüttenscheider Traditionskneipe Ampütte den Sieg feiern, so wie früher.
Man merkt: Die Gelegenheit gab’s lange nicht. Denn sonntags hat die Ampütte Ruhetag.
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