Essen. Die politische Nord-Süd-Grenze in Essen bleibt wie gehabt erhalten, wären da nicht die Grünen, die SPD und CDU zunehmend Stimmen streitig machen.
Entscheidend ist bei einer Wahl immer, wer vorne steht, aber man kann natürlich auch hinten anfangen: Bei jenem Stimmbezirk etwa, der geschlagene sechs Stunden lang zählte, so dass Essen erst zur Geisterstunde das vorläufige Endergebnis dieser Landtagswahl verkünden konnte. Oder bei den Kleinst-Parteien, deren Stimmenergebnis sich an ein paar Händen ablesen ließ. Oder vielleicht dort, wo die Lustlosigkeit, seine Stimme abzugeben, mit Händen zu greifen war.
53,93 Prozent – noch nie nahmen bei einer Landtagswahl in Essen weniger Bürgerinnen und Bürger ihr Stimmrecht wahr. Das mag auch am sommerlich warmen Wetter gelegen haben, das manchem den 120-Sekunden-Auftritt im Wahllokal als allzu lästig erscheinen ließ. Überhaupt scheint die wahlsonntägliche Bürgerpflicht aus der Mode gekommen: Knapp 99.800 Essenerinnen und Essener hatten vorab bereits per Brief gewählt, am Sonntag kamen gerade noch mal gut 118.000 dazu.
Die Hoffnungen aufs verheißene „Morgen“-Land musste Thomas Kutschaty einkassieren
Dass für die Hälfte der Wählerschar längst alles gelaufen ist, wenn TV-Duelle ausgetragen und Polit-Prominente auf die Plätze der Stadt geschickt werden – das haben die Parteien längst noch nicht verinnerlicht. Und selten war die Spreizung der Beteiligung so groß wie diesmal: Während im CDU-beherrschten Süden in acht Stadtteilen mehr als 70 Prozent der dortigen Wahlberechtigten zur Urne gingen, in Bredeney gar über 74 Prozent, waren es in acht Stadtteilen vornehmlich des Nordens jeweils nicht einmal 40 Prozent.
Auch diese Nord-Schwäche sorgte wohl dafür, dass der aus Schönebeck stammende NRW-Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, Thomas Kutschaty, seine Hoffnungen auf das verheißene „Morgen“-Land wieder einkassieren musste: „Die letzten Wochen waren die aufregendsten in meinem politischen Leben“, schrieb der 53-Jährige am Tag nach der Wahl im Kurznachrichten-Dienst Twitter: „Klar ist, dass wir mit dem Ergebnis nicht zufrieden sind. (...) Wir werden uns die Zeit zur Aufarbeitung nehmen.“
Die Hoffnung auf ein zweites CDU-Mandat trog – die Liste kam gar nicht erst zum Zuge
Zumindest in Essen scheint diese Aufarbeitung einigermaßen simpel: Im Norden holen die Genossen ihre Stimmen, aber längst nicht mehr in der für Landtagswahlen gekannten Größenordnung, und im Süden bekommen sie kaum eine Schnitte. Das umgekehrte Bild bei der CDU, eigentlich alles wie gehabt: hüben schwarz, drüben rot. Da blieb für Jessica Fuchs, die ausgerechnet im Nord-West-Wahlkreis gegen Kutschaty angetreten war, nur die Hoffnung auf die Reserveliste. Doch die trog, wie sich im Laufe des Abends herausstellte: Die Christdemokraten in NRW holten all ihre Landtagssitze als Direktmandate, die Liste blieb gänzlich unberücksichtigt.
Anders die Grünen, die in roten wie schwarzen Hochburgen Punkte machten und in immerhin drei der 50 Stadtteilen, im Südviertel, im Stadtkern und in Rüttenscheid, stärkste Kraft wurden. Ein Dutzend Stadtteile verzeichnen inzwischen 20 Prozent Grünen-Stimmen und mehr, und nur in den klassischen Arbeitermilieus von Vogelheim, Karnap und Katernberg blieb man einstellig.
Gestutzt die Liberalen, abgestürzt die Linken, und auch die AfD wird kleinlaut
Deutlich gestutzt die Liberalen mit Stadtteil-Ergebnissen zwischen 2,9 und 9,5 Prozent, regelrecht abgestürzt die Linke, die – gäbe es eine Fünf-Prozent-Hürde in Stadtteilen – nur noch im Stadtkern und im Ostviertel drüberspringen könnten. Und eher kleinlaut auch die „Alternative für Deutschland“, die nur im äußersten Norden, vor allem in Karnap, Vogelheim und Katernberg, noch nennenswerte Stimmenanteile erzielt. Geschuldet mutmaßlich nicht zuletzt dem Umstand, dass dort der langjährige Sozialdemokrat und jetzige AfD-Europaabgeordnete Guido Reil auf dem Wahlzettel stand.
Bemerkenswert auch, dass teilweise mehr als neun Prozent der Wahlberechtigten (in Frohnhausen, im Südostviertel und im Stadtkern) den „sonstigen“ Parteien ihre Stimmen liehen: Für Tierschutzpartei und Team Todenhöfer, DKP und MLPD, für Zentrum, Volt, Liebe, Piraten und all die anderen entschieden sich stadtweit immerhin rund sechs Prozent.
Die neuen Wahlkreisgrenzen haben die alte Zuordnung der Direktmandate zementiert
Was die Direktmandate angeht, so viel scheint nach dieser Landtagswahl festzustehen, hat die neue Grenzziehung der Wahlkreise die alte Zuordnung – dreimal SPD, einmal CDU – eher zementiert. Selbst im Essener Westen, wo die langjährige Landtagsabgeordnete Britta Altenkamp nach 22 Jahren das Feld freigemacht hat, musste Julia Kahle-Hausmann von der SPD an diesem Abend nicht wirklich zittern.
Allerdings profitierte sie auch davon, dass ihre Konkurrentinnen Inga Sponheuer von den Grünen und Eva Großimlinghaus mit jeweils 25 Prozent der Erstimmen nahezu gleichauf lagen – Ratsfrau Kahle-Hausmann zieht nun mit 32 Prozent der Stimmen ins Parlament ein. Nicht mal ein Drittel also – aber vorne.
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