WACHKOMA

Zurück aus der Zwischenwelt

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Für Susanne Altemeyer (36) gibt es zwei Leben – eines, bevor sie im Jahr 2000 ins Wachkoma fiel und eines, nachdem sie nach dreieinhalb Jahren wieder erwachte.

Für Susanne Altemeyer (36) gibt es zwei Leben – eines, bevor sie im Jahr 2000 ins Wachkoma fiel und eines, nachdem sie nach dreieinhalb Jahren wieder erwachte.

Foto: WAZ

Essen.   Susanne Altemeyer erwachte nach dreieinhalb Jahren aus dem Wachkoma. Für die Angehörigen der Essener Selbsthilfegruppe Wachkoma nährt sie die Hoffnung, dass manche Patienten eines Tages den Weg zurück in ein normales Leben finden.

Wer Susanne Altemeyer kennenlernt, begegnet einem lebenslustigen Menschen. Die 36-Jährige wird schnell mit anderen warm, lacht viel, albert herum – wie zum Trotz, als habe sie die Nase voll davon, gewisse Dinge im Leben zu ernst zu nehmen. Dass sie all das heute ohne Probleme tun kann, gleicht einem kleinen Wunder. Denn die Essenerin hat dreieinhalb Jahre ihres Lebens in jener rätselhaften Welt zwischen Leben und Tod verbracht, die Neurologen bis heute nicht wissenschaftlich genau erfassen können – im Wachkoma. Doch hatte sie das Glück, das etwa 30 Prozent der Betroffenen zuteil wird. Sie erlangte wieder das Bewusstsein und kämpfte sich in kleinen, mühseligen Schritten zurück ins Leben.

„Die Zeit, nachdem ich aufgewacht bin, war sehr verwirrend für mich. In den ersten Monaten habe ich meine Umwelt wie ein Kind erforscht und mit Klötzen Türme gebaut. Ich habe wirklich ganz von vorne angefangen.“ Ihre Geschichte erinnert zuweilen an das Märchen von Dornröschen. Mehr Neues als sie zunächst verarbeiten kann, prasselte auf sie ein. Denn die zu diesem Zeitpunkt 28-Jährige fand sich in einer historisch veränderten Welt wieder. Während sie im Wachkoma war, erschütterten die Anschläge auf das World-Trade-Center in den USA die Welt. Und sie verpasste, wie 2002 in Deutschland der Euro eingeführt wurde. Als sie in der Zeit des Wachkomas eines Tages zufällig wegen eines Darmverschlusses dringend operiert werden musste, kam sie nach dem Eingriff wie durch ein Wunder zu sich, gab zunächst nur unverständliche Laute von sich. Ganz allmählich fand Susanne den Weg zurück in die Normalität.

Virusinfektion war Auslöser

Bis heute wissen die Ärzte nicht genau, was diesen Zustand bei ihr ausgelöst hat. Nur, dass es wohl ein Virus gewesen sein muss, in Folge dessen die junge Frau eine Herzattacke erlitt. Das Unglück nahm im Jahr 2000 seinen Lauf, als die Zahnarzthelferin eines Nachts Notdienst in der Praxis hatte. Wenige Tage zuvor hatte sie über Kopfschmerzen geklagt und sich nichts weiter dabei gedacht. Wohl aus Gewohnheit schloss sie sich in den Praxisräumen ein. Mit einem Mal wurde der Schmerz unerträglich. Dann setzt ihre Erinnerung aus. Später wird sie aus Erzählungen erfahren, wie ihr damaliger Freund sie nach vergeblichem Klingeln an der Praxistür durch ein Fenster auf dem Boden liegen sah, gewaltsam in die Räume eindrang und schließlich den Rettungsdienst alarmierte. Heute ist Susanne Mitglied in der Essener Selbsthilfe-Gruppe für Angehörige von Wachkoma-Patienten. Für alle Mitglieder hier hat sie eine besondere Bedeutung. Denn die junge Frau ist der lebendige Beweis, dass es dieses kleine Wunder möglich ist – das Erwachen aus dem Wachkoma.

„Mitunter maßen Ärzte sich an, darüber urteilen zu können, was ein Mensch im Zustand des Wachkomas wahrnimmt und fühlt. Das ärgert mich wahnsinnig“, sagt Manfred Ernst, dessen einzige Tochter seit fast 27 Jahren im Wachkoma ist. Wohl ein Ärztefehler nach einem schweren Asthmaanfall ist dafür verantwortlich. Doch Ernst will nicht in alten Wunden herumbohren. Wichtiger ist ihm das Leben mit seiner Tochter im Hier und Jetzt. Doch in den vergangen Jahren hat er viel über den Umgang mit Wachkoma-Patienten in Deutschland gelernt und kann seinen Ärger kaum herunterschlucken. „Es fängt damit an, dass Menschen im Beisein des Patienten über ihn sprechen nach dem Motto – ‘Der kriegt doch sowieso nichts mit’. Dabei reagieren Wachkoma-Patienten sehr wohl auf die Zuwendung geliebter Menschen.“ Teure Medikamente etwa gegen die Verschleimung der Atemwege werden außerdem nicht von den Krankenkassen bezahlt, was die leidgeprüften Angehörigen vor zusätzliche Probleme stellt. „Eine andere Frau, deren Mann im Wachkoma ist, hat mir einmal etwas sehr Trauriges erzählt. Sie fragte sich: ‘Kaufe ich ihm jetzt die Medikamente oder ein Brot für die Familie?’ Das ist unser Gesundheitssystem“, moniert Ernst.

Mohsen Tekiyeh, Kardiologe am Essener Herz-Kreis-Zentrum, kennt viele tragische Schicksale von Wachkoma-Patienten und hat einen Rat, wie man in bestimmten Fällen das Schlimmste verhindern kann. Denn: „Viele Fälle von Wachkoma sind Folgen eines Herzversagens. Oft haben Menschen nicht den Mut zu einer Herz-Rhythmus-Massage, wenn jemand bewusstlos geworden ist und keinen Puls mehr hat.“ So könne man besser eine gebrochene Rippe in Kauf nehmen als zuzulassen, dass das Gehirn länger als vier Minuten keinen Sauerstoff bekommt.

Neurologie stößt an ihre Grenzen

Doch der Zustand des Wachkomas bleibt auch für die Wissenschaft ein Mysterium. Christoph Gerhard, Neurologe und Palliativ-Mediziner, beschreibt es so: „Beim Wachkoma haben wir es mit einer Störung der Großhirnfunktion zu tun. Es ist eine Beschränkung auf das Körperselbst, auf die lebenserhaltenden Funktionen. Wann immer man einen Patienten berührt, ihm Musik vorspielt oder ihn anspricht, hole ich ihn ein Stück aus dieser abgeschlossenen Welt heraus“, erläutert er und geht mit seiner Zunft hart ins Gericht: „Es ist auch unter Neurologen ein Irrglaube, dass man anhand von Gehirntomographien eindeutige Prognosen für Wachkoma-Patienten stellen könnte. Das Gehirn ist zu komplex, als dass wir verstehen könnten, wie es arbeitet.“

Margitta Freund, die in Essen die Selbsthilfe-Gruppe Wachkoma leitet, möchte anderen Angehörigen Mut machen, den Kontakt zu der Gruppe zu suchen. „Wir sind nur eine Handvoll Leute. Ich weiß aber, dass wir in Essen gut 80 Wachkoma-Patienten haben. Offenbar gibt es da noch eine Hemmschwelle“, stellt sie fest. „Es tut gut, mit den Sorgen nicht allein zu sein.“

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