Der Selbermachen-Chor am Ringlokschuppen hat sich unter Leitung des Geschwister Duos Klapdor & Klapdor mit dem Kontinent beschäftigt
Was liegt bei der Beschäftigung mit Europa schon näher als Schillers Ode an die Freude, heißt es dort doch visionär, „alle Menschen werden Brüder“. Die erste Strophe kennt, untermalt von Beethovens 9. Sinfonie, jeder als Europahymne, aber die vierte Strophe? „Freude heißt die starke Feder in der ewigen Natur, Freude, Freude treibt die Räder in der großen Weltenuhr.“ Daraus lässt sich auch in schweren Zeiten, die die europäische Idee derzeit durchmachen muss, Hoffnung schöpfen.
In der Kunst springen viele für diese Idee, die uns abgesehen vom Jugoslawien-Krieg die längste Friedensperiode beschert hat, in die Bresche, etwa Konstantin Küspert, der mit „Europa verteidigen“ bei den Stücken den Publikumspreis errang oder aktuell Robert Menasse, der mit „Hauptstadt“ den deutschen Buchpreis errang.
Auch für die Schwestern Anna-Lena (Regie) und Katharina Klapdor (Dramaturgie) war Europa das Thema der Stunde, als sie am Ringlokschuppen mit anderen Profis aus unterschiedlichen Sparten vor ziemlich genau einem Jahr unter dem Schlagwort Selbermachen Mitstreiter für ein Sprechchor-Projekt suchten. Aus den anfangs vielleicht 30 Interessierten kristallisierte sich nach einigen Arbeitstreffen der harte, 15-köpfige Kern heraus. Und es ist eine wirklich bunte Truppe in jeder Beziehung, darunter zwei Männer, einige, die zuvor noch gar keinen Kontakt mit dem Ringlokschuppen hatten und einige mit direkter Migrationsgeschichte. Bei den meisten muss man in der Familiengeschichte nicht weit zurück gehen, um auf Zuwanderungsgeschichten zu stoßen. Auch das wurde am Ende Material für den Abend, der jetzt unter dem auf den ersten Blick irritierenden Titel „Massaker/Neue Schuhe“ gespielt wird. Der Titel nimmt Bezug auf den Song „Europe is lost“ der Rapperin Kate Tempest, mit dem sie sich beschäftigt haben, wie Anna-Lena erläutert. Gespielt ist auch die richtige Bezeichnung, denn ein Blick in die Probenarbeiten zeigt, dass die knapp einstündige Aufführung weit mehr als nur Sprechen beinhaltet, sondern auch choreograpfische Elemente ebenso wie gespielte Sequenzen bietet.
„Am Anfang haben wir sehr tagesaktuell gearbeitet“, erzählt die Kulturanthropologin Katharina Klapdor. Der Brexit-Beschluss lag gerade zwei, drei Monate zurück, die Frankreich-Wahl stand bevor, die extreme Rechte legte in allen Ländern zu und dann gingen Tausende in der Pulse of Europe Bewegung in zahlreichen Städten auf die Straße, um dem Europa-Gedanken neues Leben einzuhauchen.
Es wurde an den Abenden chorisches Sprechen geübt, was bei den Proben wunderbar klappte, sich historisch dem Thema genähert und Empathie und Mitleid erörtert. Auch die Jugendarbeitslosenzahlen in den einzelnen Ländern wurden recherchiert und werden zwischendurch auch genannt - mit erschreckend hohen Werten von 44 Prozent in Griechenland und 38 Prozent in Spanien.
„Bitte, Herr vergib ihnen nicht, denn sie wissen, was sie tun“, heißt es in Anlehnung an das Lukas-Evangelium. Letztlich geht es um Visionen, den Traum von einem Europa ohne Grenzen, Hass, mit einem gesicherten Grundeinkommen und vor allem Gerechtigkeit. Das mag etwas zu optimistisch klingen. Der Text, das ist der Gruppe wichtig, entstand kollektiv. Die erste Version lehnten die Spieler ab. „Bei mir war alles noch viel finsterer“, meint Katharina Klapdor.
<<<<<Selbermachen-Chor heute und am morgigen Samstag, jeweils 20 Uhr, Karten, 8/erm. 4 Euro.
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