Gelsenkirchen-Ückendorf. Das Haus Reichstein ist offiziell eröffnet. So digital und analog bietet das Gelsenkirchener Denkmal Einblicke in Techniken der Altbausanierung.
Dieses Haus ist einzigartig im Land: Auferstanden aus Ruinen, mit eigener Homepage, mit dem Titel Modellhaus NRW, mit einer besonderen Ausstellung auf den verschiedenen Etagen und ausgefallener Kunst am Bau, mit einem Café im Erdgeschoss, mit dem Stadtteilbüro. Vor allem aber ist es eins: endlich fertig. Im Haus Reichstein, Bochumer Straße 114, Baujahr 1902, wurde Mittwoch Eröffnung gefeiert. Gelsenkirchen hat damit ein vorzeigbares Stück Stadterneuerung (hin)bekommen. Über zehn Jahre wird hier zu sehen sein, wie Altbauten beispielhaft saniert werden können.
Die Landschaftsgärtner waren die letzten Handwerker, die in den vergangenen Tagen noch stark gefordert waren. Eine weitläufige Terrasse im Hinterhof ist gepflastert, Spalierobst und Sträucher wurden gepflanzt. Die Rasensaat muss noch in Schwung kommen. Ansonsten ist rundum alles premierenreif – von der schmucken, reich verzierten Gründerzeitfassade des Baudenkmals bis zu den vorgebauten, großzügigen Balkonen auf der sonnigen Kehrseite.
Gelsenkirchener Stadterneuerungsgesellschaft SEG „repariert“ das Stadtquartier
Das Gebäude in Ückendorf war ein schwieriger Patient, steht aber eben auch beispielhaft dafür, was rundum passiert, seit die Stadterneuerungsgesellschaft SEG an der Bochumer Straße Haus um Haus erworben hat und angetreten ist, dem Stadtquartier neuen Auftrieb zu geben. SEG-Geschäftsführerin Helga Sander erinnerte bei der Begrüßung noch einmal an die lange, zähe Vorgeschichte. Und auch daran, dass das Haus Reichstein 2016 noch dem Abriss gewidmet war, weil über das Grundstück eine Erschließung zum Wissenschaftspark führen sollte.
Das Haus Reichstein war 2016 noch dem Abriss gewidmet
Rückblende auf den symbolischen Baustart, November 2018: Die Ziegelmauern liegen blank, Tapetenfetzen hängen von den Wänden, neue Holzstreben stützen marode Deckenbalken neben dicken Stahlträgern. Wände mit extremer Schieflage mahnen an Bergbaufolgen. Alles rundherum zeugt davon: Das Haus ist ein Problemfall, wie so viele an der Bochumer Straße. Nun soll es runderneuert werden. Und zwar „wertschätzend“, wie Architekt Ulrich Piel vom Büro Piel/Galert betont.
Damals wie heute mit dabei: Eugen Reichstein. Sein Vater Alfred Reichstein hat die Kneipe bis zu seinem Tod geführt, dessen Frau Maria betrieb sie noch einige Jahre weiter. Eugen ist hier aufgewachsen, hat sich als „Kegeljunge“ Taschengeld verdient. Jetzt ist er zurück im früheren Schankraum, der heute das Café Ütelier beherbergt. „Sonntags nach der Kirche war die Kneipe voll.“ Kein Kunststück, Heilig Kreuz, Denkmal und für gut 14 Millionen Euro hergerichtete Kulturkirche, liegt genau gegenüber. Eugen, mittlerweile 78, lebt in Hassel. Aus Trier ist sein Bruder Manfred (80) angereist. „Ich bin gespannt wie es aussieht, wir haben ja damals in der ersten Etage gewohnt“, sagt er. Gerne wollen die beiden auch noch in den Keller. Dort hat der Vater einst Schnaps gebrannt.
Interaktive Info-Stationen in verschiedenen Zimmern der Ausstellung
Das Haus Reichstein macht nun auf seine alten Tage Karriere. Es soll Eigentümern auch die Angst vor Sanierungsfällen nehmen. Das Denkmal bietet ihnen, aber auch Planern und Handwerkern, buchstäblich Einblicke in Baulösungen. Hier blieben stellenweise Wände und Böden offen, zeigen den Aufbau oder die Ausmauerung von Innengefachen, dort werden auf Tablets Bauschritte und Techniken demonstriert. Bewusst wurde auf 580 Quadratmetern Fläche nicht alles glatt wegsaniert, blieben rohe Wände, offen liegende Stahlträger. Auch die Schieflage hat das Haus behalten - im Treppenhaus beim Aufstieg oder beim Gang über die Holzböden der langen Flure ist das deutlich zu spüren.
Wetter, Holzwurm und Pilzsporen haben ganze Arbeit geleistet
Interaktiv und analog offenbart das Gebäude den Baufortschritt. Auch Schwamm, eigentlich ein K.o.-Kriterium fürs Gebälk, kann dabei lehrreich sein: Im Haus Reichstein hatten Wetter, Holzwurm und Pilzsporen ganze Arbeit geleistet: Von alten Balken blieb stellenweise nur ein modriger Rest. Ein Horrorszenario für Statiker. Heute dient das alte Holz als Anschauungsmaterial, wie Konstruktionsteile ersetzt werden können und zeigt, was aus vermeintlich hoffnungslosen Fällen werden kann.
„Was wir tun, hat schon Power. Das kann sich sehen lassen.“ Das Haus stehe „für Gelsenkirchen. Wir nehmen jede Herausforderung an“, freute sich Oberbürgermeisterin Karin Welge, ehe sie mit Architekten und Bauleuten auf Erkundungstour durch die Stockwerke ging.
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In der zweiten Etagen trifft Kunst auf Handwerk und Sanierung. Das Weimarer Kollektiv „StudioWägetechnik” hat als Ergebnis eines Wettbewerbs die Skulptur „Bauleiter” für das Haus Reichstein entworfen. Erdbeerrot türmen sich Tische und Schränkchen, Limokasten, Bücher, Kartons und Stühle zu einer Bauleiter. Mit einem Augenzwinkern geht es um die Sicherheit beim Heimwerken, aber auch ums spielerische Erkunden des Raums. Das Leiter-Ensemble, komplett und massiv aus Holz gefertigt und – anders als der erste Eindruck vermuten lässt – äußerst stabil, lädt bewusst zum Besteigen ein – und die OB machte sich als erste auf den Weg nach oben.
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