Gelsenkirchen-Buer. Ghiyath Alzawawi, Assistenzarzt am Bergmannsheil in Gelsenkirchen-Buer, half in der syrischen Erdbebenregion. Das ist seine bewegende Geschichte.
Ghiyath Alzawawi ist erst wenige Stunden zurück und schon wieder im Dienst. Er hat die vergangenen Tage an einem Ort verbracht, den sonst kaum Hilfe erreicht. Es ist ein Ort, an dem die verheerenden Folgen des Erdbebens vom 6. Februar 2023 deutlich zu erkennen sind: Die syrische Rebellenhochburg Idlib – tagelang von der Außenwelt abgeschnitten, nachdem heftige Erdstöße für eine der größten Katastrophen der letzten Zeit sorgten. Ghiyath Alzawawi ist Assistenzarzt an der Klinik für Neurochirurgie am Bergmannsheil, Mediziner – vor allem aber: Erdbeben-Helfer. Die WAZ konnte ihn kurz nach seiner Rückkehr in Buer kennenlernen.
Arzt vom Gelsenkirchener Bergmannsheil als Helfer in der Erdbebenregion: „Wir waren vom ersten Tag an bereit“
Müde sei er, und erschöpft, so ist die Antwort auf die Frage, wie es ihm denn aktuell gehe. Und doch wirkt dieser junge Mann nicht abgeschlagen, gar melancholisch. Er hat viele Eindrücke, viele Gedanken im Gepäck und auf seinem Smartphone zahlreiche Fotos. Von Schutt und Betonteilen überall, von zertrümmerten Mauern, die einmal Häuser waren, von Zelt-Städten, die bis zum Horizont reichen. Es sind schreckliche Bilder, die das Leid der Menschen vor Ort nur erahnen lassen können.
Als Ghiyath Alzawawi, der Arzt mit den syrischen Wurzeln, nach einer langen Reise von vier Tagen am 20. Februar endlich dort ankommt, wo er helfen will – bewegt sich die Erde im Norden Syriens erneut. Das Erdbeben hat eine Stärke von 6,4; Menschen laufen in Angst und Panik über die Straßen. Ghiyath Alzawawi hat ein Video davon gemacht, es ist dunkel, Autos rasen, dazu ein paar Motorroller, alles ist in Aufruhr und mittendrin die Menschen.
Zwei Wochen Sonderurlaub für Erdbeben-Hilfe: Ghiyath Alzawawi besonderer Dienst
Ghiyath Alzawawi ist an diesem 6. Februar im Dienst, als er von dem Beben in seiner Heimat erfährt. Der Norden Syriens, darunter Idlib, dieses Niemandsland wo Millionen leben müssen, es ist seine Heimat, die Heimat seiner Familie. Lange, bange Stunden kommt zunächst keine Verbindung zwischen dem 34-Jährigen und Vater, Mutter, Schwester zustande. Am Mittag dann der hoffnungsvoll erwartete Anruf seines Vaters. Seine Eltern, sie leben, seine Schwester mit ihren drei kleinen Kindern auch. Sie konnten sich aus den Trümmern retten.
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Es ist ein großes Glück. Der junge Arzt fasst schnell den Entschluss, helfen zu wollen. Er kommt dem Aufruf einer Hilfsorganisation nach, hört auch noch über einen Freund, dass dringend Mediziner im Erdbebengebiet gesucht werden. Er spricht mit seinem Arbeitgeber: Der gibt sofort grünes Licht, aufgrund der besonderen Situation bekommt Ghiyath Alzawawi zwei Wochen Sonderurlaub. Er macht sich auf den Weg, vor Ort arbeitet er in einem Team mit sechs weiteren Ärzten aus Deutschland. Sie zögern keinen Moment: „Wir waren vom ersten Tag an bereit“, berichtet der junge Mediziner. Und auch davon, dass er drei Tage erst einmal nur reisen musste, um überhaupt in die abgeriegelte Region zu kommen.
Vor Ort dann das: Eine Diagnostik ist so gut wie unmöglich, es gibt kaum medizinisch-technisches Gerät, Alzawawi und seine Kollegen leisten so gesehen nur erste Hilfe. Viele Notfälle sieht er in diesen Tagen. Die, die überhaupt ins Krankenhaus kommen, haben ebenfalls großes Glück gehabt. Denn die meisten Schwerstverletzten, das sagt der angehende Neurochirurg auch, schaffen es gar nicht erst bis dorthin.
Nach dem Beben: Verletzte haben Wirbelsäulenfrakturen und Nierenversagen
Typische Verletzungen, wie beispielsweise das so genannte „Kompartmentsyndrom“, behandelt er mit gezielten Eingriffen. Diese Art würde häufig auftreten, wenn es zu stumpfer Gewalteinwirkung auf die Gliedmaßen kommt, etwa durch Sprünge aus großen Höhen oder durch Quetschungen. Die betroffenen Körperteile schwellen an und nur gezielte Schnitte können Heilung und Entlastung bringen.
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Unter den Verletzten sind auch zahlreiche Menschen mit Wirbelsäulenfrakturen oder Patienten mit akutem Nierenversagen. Und dann gibt es auch die Fälle, die indirekt durch das Erdbeben betroffen sind. Ghiyath Alzawawi erzählt von einem 15 Monate alten Kleinkind, dass aufgrund einer Krankheit dringend eine Operation benötigt. Doch die aktuelle Lage macht auch dies schlicht unmöglich.
„Es war schon vorher schlimm dort, aber dieses Erdbeben hat es noch schlimmer gemacht“, schildert der Mediziner seine Eindrücke. Ghiyath Alzawawi schläft in einem Zimmer des hiesigen Krankenhauses, teilt es sich mit Mitgliedern aus seinem Hilfsteam. Essen gibt es dort auch – aber eigentlich sind sie ja nur zum Schlafen dort. Den Großteil des Tages verbringen sie damit, zu helfen. Teilweise unter widrigsten Bedingungen.
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Ghiyath Alzawawi wird nachdenklich, wenn er an all die Opfer denkt: „Wenn die ganze Familie tot ist, wird keiner leiden.“ Das sei viel einfacher, als wenn ein Einzelner zurückbleibt. „Ich hatte Angst natürlich“, sagt er auch, er mache sich nun mehr Sorgen um seine Familie. Mit den Gedanken und dem Herzen bei der Familie zu sein, das kennt er: Aufgrund der dort herrschenden Verhältnisse konnte der 34-Jährige seine Familie acht Jahre lang nicht besuchen. 2015 kam er von Syrien nach Deutschland, mit einem abgeschlossenen Medizin-Studium. Das Wiedersehen mit seiner Familie vor wenigen Tagen, es war zuletzt auch Freude, trotz all des Leids um ihn herum.
Ob er wieder dorthin fahren würde? „Wenn ich darf, natürlich!“, antwortet Ghiyath Alzawawi mit einem Lächeln auf den Lippen.
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