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Essens Polizeipräsident: „Wir müssen Gefühle ernster nehmen“

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Frank Richter, seit 2015 Polizeipräsident von Essen und Mülheim, ist in Borbeck geboren und wohnt in Mülheim

Frank Richter, seit 2015 Polizeipräsident von Essen und Mülheim, ist in Borbeck geboren und wohnt in Mülheim

Foto: Michael Dahlke/FUNKE Foto Services

Essen/Mülheim.   Polizeipräsident Frank Richter über die Grenzen der Kriminalitätsstatistik, den veränderten Umgang mit Ängsten und die Probleme mit Migranten.

Herr Richter, die Polizeistatistik verzeichnet eine zurückgehende Kriminalität, trotzdem haben viele Menschen mehr Angst – wie passt das zusammen?

Frank Richter: Die Polizei hat über viele Jahre etwas versäumt, was uns jetzt einholt. Wissen Sie, ich kann Menschen bei Veranstaltungen mit Statistiken überhäufen, aber sie gehen nicht mit einem anderen Gefühl raus. Und das Gefühl ist entscheidend. Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, warum es zu dieser Diskrepanz kommt.

Nämlich?

Wir sind insgesamt als Gesellschaft ängstlicher geworden. Ich bin in Borbeck geboren und habe als Jugendlicher in Stoppenberg Handball gespielt. Das ist ja eine Strecke zu laufen, und auf dem Weg gab es auch dunkle Ecken. Wenn ich meinen Vater gefragt hätte, kannst du mich zum Training fahren, hätte der die Frage gar nicht verstanden. Was will ich damit sagen? Wir versuchen von Kindern vieles fernzuhalten aus der Angst heraus, da könnte was passieren. Angstverschärfend ist sicherlich auch, dass immer mehr über Kriminalität berichtet wird.

Also sind die Medien schuld?

Ich will nicht pauschalieren. Die Medienlandschaft hat sich jedenfalls total verändert. Wo es früher Reporter der Tageszeitung gab, vielleicht noch der WDR, hat man heute das Gefühl: Jeder ist irgendwie Reporter. Das geht schon manchmal auf Kosten der Sachlichkeit.

Frank Richter: „Essen ist die viertsicherste Großstadt in Nordrhein-Westfalen“

Machen wir uns also umsonst Sorgen?

Essen ist die viertsicherste Großstadt in NRW. Das ist Statistik. Trotzdem sagen mir Bürger: Ich trau mich nicht mehr rauszugehen. Neulich wollte mir jemand klar machen, dass Heisingen eine No-Go-Area sei. Solche Ansichten kann man nur in ein gewisses Lot bringen, wenn wir mit den Menschen sprechen. Nichts totschweigen, nicht übertünchen, aber versuchen, realistisch an die Themen ranzugehen. Eine echte Gefahr ist, dass Menschen aufgrund ihres subjektiven Gefühls objektiv ihre Verhaltensweisen ändern und bestimmte Ecken in der Stadt meiden. Dann geben wir wirklich den Kriminellen Raum.

In der Innenstadt fühlen sich laut Umfragen viele Essener unwohl, auch weil sich dort Menschen aufhalten, die auffällig sind, anders aussehen, sich anders verhalten als der Normalbürger. Haben die Menschen eine andere Vorstellung von Kriminalität, jenseits dessen, was die Statistik überhaupt registriert?

Absolut. Wir müssen unterscheiden zwischen Kriminalität und Befindlichkeitsstörungen. Es passiert nichts, aber ich fühle mich eingeschüchtert. Es gibt zweifellos Verhaltensweisen, die unangenehm sein können, aus polizeilicher Sicht aber nun mal keine Rolle spielen. Wir kriegen zum Beispiel auch eine Vielzahl von Anrufen über Verschmutzung. Das ist sicher nicht schön, aber hier geht es nicht um Kriminalität, sondern um Werte.

„Der Werteverfall fängt bei Kleinigkeiten an“

Die Polizei soll sich also auch verantwortlich fühlen, wenn sich Leute schlecht benehmen. Fühlen Sie sich als Reparaturbetrieb missbraucht?

Ja. Da spuckt einer auf den Boden, wirft seinen Sperrmüll auf die Straße, lässt verbale Anzüglichkeiten raus – der Werteverfall fängt bei Kleinigkeiten an. Ältere in der Straßenbahn sitzen zu lassen, nicht vorzudrängeln, das waren früher Themen, die wurden im Rahmen der Erziehung geregelt. Heute ist vielfach die Polizei dazu da, Werte hochzuhalten, an die viele Bürger selbst nicht mehr glauben und die auch nicht mehr vorgelebt werden. Damit sind gerade die jungen Kolleginnen und Kollegen bei uns aber überfordert.

Die Gefühle der Leute ernst nehmen – wie macht man das?

Erzählen. Vortragen. Ich frage immer, wann hat es angefangen mit dem Unsicherheitsgefühl. Ein Erfolg ist, wenn jemand ins Nachdenken kommt und sagt: Der Polizeipräsident hat recht, früher war auch nicht alles sicher.

Migranten sind statistisch stärker an Kriminalität beteiligt. Was sagen Sie, wenn Sie bei Gesprächen mit Bürgern damit konfrontiert werden?

Wir müssen das differenziert sehen. Wir haben ein großes Problem mit jungen Männern aus den Maghreb-Staaten, wir haben ein Problem mit Mitgliedern libanesischer Clans, wir haben ein Problem mit Dealern aus Afrika und wir hatten ein großes Problem mit Einbrecherbanden aus Südosteuropa. Diese Gruppen kann man aber zum Beispiel nicht mit einer irakischen Flüchtlingsfamilie in einen Topf werfen. Die verhält sich hier zumeist unauffällig.

„Es gibt Brennpunkte, keine No-Go-Areas“

Was ist mit kulturell bedingten Straftaten, etwa das Thema sexuelle Selbstbestimmung von Frauen?

Es gibt natürlich Migranten, die glauben, eine Frau sei Freiwild, wenn sie unverschleiert herumläuft. Ferner gibt es auch Straftaten aus dem Bewusstsein heraus: Ist ja egal, in zwei Jahren bin ich eh wieder weg, weil ich keine Aufenthaltsberechtigung habe. Das bereitet uns große Probleme.

Wer Sie beobachtet, kann erleben, dass Sie vor allem auf das Wort „No Go-Area“ allergisch reagieren.

Weil es sie so nicht gibt. No Go-Area hat sowas Absolutes. Es gibt Brennpunkte, ganz klar, Altendorf, die nördliche Innenstadt, da schicken wir auch bei Einsätzen einen zweiten Streifenwagen hin. Aber wir gehen überall hin. Ausnahmslos. Wissen Sie, ich bin im 43. Jahr bei der Polizei. Brennpunkte gab es schon immer, wenn auch weniger als heute. Früher gab es bestimmte Kneipen, da sind wir immer mit drei Streifenwagen hingefahren, und weil ich der Größte war, musste ich immer als erster rein (lacht).

In letzter Zeit haben Sie für Aufsehen gesorgt mit den Razzien in der Innenstadt, der Bekämpfung der Clan-Kriminalität. Ist das Nadelstichpolitik oder dient es tatsächlich der Kriminalitätsbekämpfung?

Beides. Wir wollen denen zeigen: Der Staat ist da und weicht auch nicht. Das hilft schon mal. Dann decken wir bei einem Acht-Stunden-Einsatz 500 bis 600 Tätlichkeiten auf. Das ist ja was. Und es kommt ein Drittes hinzu: Wir hellen die Strukturen auf. Denn wir wissen wenig, wie diese Clans funktionieren. Welche Macht so genannte Friedensrichter haben, dass sie über Leben und Tod bestimmen können, das haben wir ja neulich bei dem versuchten Ehrenmord gesehen.

Wie konnte es soweit kommen?

Wir haben über Jahre falsche Entwicklungen hingenommen und auch widersprüchliche Signale gesendet. Der Aufenthaltsstatus der kurdisch-libanesischen Flüchtlinge war unklar, aber Gewerbe durften sie anmelden. Teilweise hat man sie ausgestoßen, aber an unsere Regeln sollten sie sich halten. Polizeiliche Maßnahmen greifen da oft nicht. Haftstrafen etwa erhöhen noch das Ansehen in der Hierarchie.

Was hilft denn?

Wir müssen denen ans Geld. Wer ein Auto für 100 000 Euro fährt, aber noch nie eine Arbeit nachweisen konnte und von Hartz IV lebt, kriegt nicht nur Ärger mit uns, sondern mit dem Zoll und der Steuerfahndung – das tut dann weh, denn ich kenne keine staatliche Institution, die soviel Macht hat wie die Steuerfahndung. Die sollen nachweisen müssen, woher das Geld kommt. Wir haben zum rechten Zeitpunkt die Notbremse gezogen, und da bleiben wir auch dran. Meine Hoffnung ist, dass der eine oder andere sagt: Es gibt vielleicht doch ein anderes Leben, ein legales.

„Zunehmende Respektlosigkeit ist ein Alarmsignal für die gesamte Gesellschaft“ 

Werden Polizisten überhaupt ausreichend ernst genommen? Die Polizei hat sich doch stark verändert in den letzten Jahrzehnten, ist weicher geworden, weniger ruppiger, diskussionsbereiter.


Polizei hat sich verändert, ja. So wie sich die Gesellschaft verändert hat. Es ist schwieriger geworden für die jungen Kolleginnen und Kollegen sich durchzusetzen. Heute hält man ihnen die Handykamera vor und beschimpft sie. Früher war da manches rustikaler, aber das heißt eben nicht, dass früher alles gut war, im Gegenteil: Die Jungen sind zum Beispiel besser ausgebildet als wir es damals waren. Sie gehen anders mit den Bürgern um, aber die Bürger sind auch anders geworden.




Es geht weniger um Normalbürger, aber um hart gesottene Gesetzesbrecher. Haben Sie da kein Respektproblem?

Klar gibt es das. Wir sind da Seismograph. Wenn die Respektlosigkeit gegenüber der Polizei zunimmt, ist das ein Alarmsignal für die gesamte Gesellschaft. Polizisten werden beleidigt, angespuckt, körperlich bedrängt – das hätte man in früheren Zeiten vielleicht nur einmal gemacht…



Gutes Stichwort. Manche Bürger fragen sich deshalb: Warum schlägt die Polizei in solchen Fällen nicht härter zu?

Das ist eben der Unterschied zwischen Polizei in der Demokratie und Polizei in autoritären Systemen. Wir dürfen uns nicht außerhalb des Gesetzes stellen, dann würden wir uns ja gemein machen. Und wir werden anders als früher viel kritischer von der Öffentlichkeit kontrolliert, Stichwort Polizeigewalt. Seien Sie aber gewiss: Wir werden die richtigen Antworten finden, auch gegenüber hartleibigen Widersachern.


Die Polizei hat beim Bürger und in der demokratischen Öffentlichkeit ein gutes Image, vielleicht so gut wie nie zuvor.


Das kommt auf den Einzelfall an. Wenn ich dem Bürger sage: Sie sind falsch gefahren, macht 40 Euro – dann ist die Begeisterung erst mal geringer (lacht). Aber im allgemeinen stimmt es schon, das zeigen ja alle Rankings, bei denen es um das Ansehen von Berufen geht. Und dieses Ansehen bei den Bürgern hilft uns auch bei der täglichen Arbeit.

Frank Stenglein

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