Dortmund. Das Turbo-Abi wird abgeschafft. Stattdessen soll ein neues G9 an den Gymnasien die Schüler wieder in neun Jahren zum Abitur führen. Die Umstellung ist für 2019/20 vorgesehen. Vor der Umstellung sind noch viele Fragen offen, einige Probleme sind schwer lösbar.
Lisa und Helen machen im nächsten Frühjahr ihr Abitur am Käthe-Kollwitz-Gymnasium. Helen wird dann noch nicht einmal volljährig sein. Sie hätten gern mehr als acht Jahre Zeit gehabt, sich vorzubereiten auf den Schulabschluss und das Leben, das dann folgen soll. „Ich sehe den Vorteil nicht, den es hat, schneller fertig zu sein“, sagt Helen (16). „Ich kann mich nicht einmal ohne meine Eltern an der Uni einschreiben.“
G9 soll die Regel werden
Dieses Problem werden zukünftige Jahrgänge nicht mehr haben. Schüler 4. Klassen und alle jüngeren Kinder müssen am Gymnasium wieder in der Regel neun Jahre einplanen. Die Landesregierung hat die Rolle rückwärts zum alten System ab Mitte 2019 beschlossen, über die Ausführung und Finanzierung wird noch beraten.
Die 16-jährige Helen will die Zeit bis zur Volljährigkeit überbrücken, eventuell mit einem Bundesfreiwilligenjahr. Sie und ihre Mitschülerin Lisa (17) sind überzeugt, dass den Turbo-Abiturienten das eine Jahr fehlt an Erfahrung, Reife und für die Entscheidung, wie es weitergehen soll. Deshalb sind sie auch sehr für eine Rückkehr zu G9. Dann wäre auch der Alltag entspannter. „Man kommt zwar klar mit G9, aber es ist unnötig stressig“, meint Lisa (17). Vor allem in den Klausurphasen sei wenig Zeit für Hobbys, Sport und Freunde.
Turbo-Abi hat Vor- und Nachteile
Lüey und Selim besuchen am benachbarten Stadtgymnasium ebenfalls die Jahrgangsstufe 11. Sie sind froh, bald fertig zu sein, glauben aber auch, mehr Zeit wäre besser gewesen. „Wir wurden ins kalte Wasser geworfen. Es hat Vorteile, so jung zu sein“, sagt Lüey (16). Selim (18) findet es sinnvoller, dass Abiturienten volljährig sind, wenn sie das Gymnasium verlassen.
Ein Schüler der 7. Klasse sieht das anders. „Dann könnte man ja genauso gut zur Gesamtschule gehen“, sagt er. Für ihn ist G8 ein klarer Wettbewerbsvorteil. Außerdem hätten Schüler durch die verkürzte Gymnasialzeit sozusagen ein Jahr als Puffer, falls es mal nicht so läuft.
Für diese Schüler kommt die Umstellung ohnehin zu spät. Der erste Jahrgang, der wieder neun Jahre Zeit haben wird, soll der sein, der 2018/19 ans Gymnasium kommt. Ältere Schüler bleiben beim 2005 eingeführten Turbo-Abi.
Schulkonferenz kann entscheiden
Gegen die Verkürzung der Schulzeit hatte es zunehmend Protest aus den Reihen der Eltern, Schüler und Politik gegeben. Die jetzige schwarz-gelbe Landesregierung hat deshalb die Leitentscheidung für eine Wende getroffen.
Nach dem Kabinettsbeschluss von Anfang Februar sollen zum Schuljahr 2019/20 alle Gymnasien in NRW zu G9 zurückkehren, die sich nicht aktiv für ein Festhalten an G8 aussprechen. Dafür wäre jeweils eine Entscheidung der Schulkonferenz mit einer Mehrheit von mehr als zwei Dritteln nötig. Das Gremium ist zu gleichen Teilen mit Vertretern von Schulleitung/Lehrern, Eltern sowie Schülern besetzt. Details arbeiten die Landespolitiker in diesen Wochen gemeinsam mit Vertretern der Verbände aus. Noch vor den Sommerferien soll der Gesetzesentwurf vorliegen.
Die Landeselternkonferenz (LEK), der die Stadt- und Kreisschulpflegschaften angehören, berät das Ministerium bei der Ausformulierung. Die LEK war auch als sachverständiger Verband zur Landtagsanhörung am 2. Mai eingeladen.
„Uns war wichtig, dass es zu einer möglichst einheitlichen Regelung kommt und es eine einheitliche Sekundarstufe 1 gibt“, sagt Anke Staar, Vorsitzende der Stadteltern. Die Schulkonferenz soll nicht jedes Mal neu entscheiden dürfen.
„Dann müssten dazu alle Grundschuleltern mit abstimmen dürfen, weil es ihre Kinder betrifft.“ Die Dortmunder Elternvertreter sähen es am liebsten, wenn die Schüler in der Oberstufe selbst wählen könnten zwischen zwei bis vier Jahren bis zum Abi.
Umfrage ergibt klare Mehrheit für G9
Im Landtag pochten die Elternvertreter vor allem auf eine gesicherte Finanzierung, eine bessere Versorgung mit Lehrern und Sozialarbeitern, ausreichend Räume sowie Kernlehrpläne, die auf ein höheres Niveau der Abiturienten zielen.
Für ein breites Meinungsbild haben die Elternvertreter vorab eine landesweite Umfrage unter den Eltern und volljährigen Schülern gestartet. Sie konnten sich unabhängig von der gewählten Schulform daran beteiligen. Die Dortmunder Ergebnisse der anonymen Abfrage zeigen mit 80 Prozent ein klares Votum für eine einheitliches G9. Für eine Wahlmöglichkeit in der Oberstufe votierten nur wenige Eltern.
Die Mehrheit der Befragen möchte auf Nachmittagsunterricht verzichten, rund 15 Prozent wünscht sich den Erhalt oder Ausbau von Ganztagsgymnasien.
Lehrermangel schlägt durch
Sorgen bereitet den Eltern laut Anke Staar vor allem die Zahl der Lehrer. Die Einstellung ist Sache der Bezirksregierung in Arnsberg. Doch gelten schon jetzt einige Fächerkombinationen als Mangelware. Anke Staar: „Wir benötigen viel mehr Lehrer, die der Markt in NRW nicht hergibt.“ Die Stadteltern-Vorsitzende fordern finanzielle Anreize für Lehrer aus anderen Bundesländern.
Ein weiteres großes Probleme ist der Platzmangel (siehe dazu Artikel links). Der zusätzliche Raumbedarf wird erst zum Schuljahr 2026/27 akut, wenn wieder der erste Jahrgang in die Jahrgangsstufe 13 wechselt. Wegen des nötigen Vorlaufs kommt die Planung aber jetzt langsam ins Rollen.
Räume sind schon jetzt zu knapp
Die Planung dürfte auch alles andere als einfach werden. Denn einige Gymnasien haben kaum Platz für Anbauten. Am Stadtgymnasium beispielsweise werden die Platzprobleme derzeit in der erweiterten Schulleiterrunde diskutiert. Schulleiter Bernhard Koolen meldet einen Bedarf von sechs bis sieben Räumen, nicht allein für den neuen Jahrgang, sondern für die individuelle Förderung, Beratung, Selbstlernphasen, Mittagsversorgung. „Wir sind darüber im Gespräch mit dem Schulträger“, sagt er.
Man könne nicht einfach an den G9-Bildungsgang von vor 15 Jahren anknüpfen. „Die Bedingungen haben sich vollkommen geändert.“ Auch mit G9 sei kein Halbtagsbetrieb möglich, betont Koolen. „Wir müssen in Richtung Ausweitung unserer Übermittagsangebote nachdenken, und das ist nur mit einer angemessenen Verpflegung möglich.“ Bislang können sich die Schüler des Stadtgymnasiums nur an einer Art Kiosk versorgen.
Schülerandrang nimmt zu
Das Platzproblem kennen auch Schulen in den Vororten. Das Phoenix-Gymnasium beispielsweise startet nun in der Jahrgangsstufe 5 im vierten Jahr in Folge fünfzügig. „Das braucht Räume“, sagt Schulleiterin Annette Tillmanns. Durch Inklusion und Sprachförderung sei der Platz schon bis aufs Letzte ausgereizt. Rückläufige Schülerzahlen erwartet die Hörder Schulleiterin absehbar nicht. Im Gegenteil: Wenn erst die Kinder aus dem Neubaugebiet rund um den Phoenix-See soweit sind, könnte es sogar noch mehr Andrang geben.
Detlef von Elsenau, Sprecher der Gymnasien und Schulleiter des Heinrich-Heine-Gymnasiums, sieht die drängendsten Probleme aber an anderer Stelle: „Wir brauchen zu allererst Informationen.“ Für den ersten Jahrgang, der in die G9-Laufbahn startet, gibt es keine aktuelle Stundentafel; es ist also nicht klar, wie viele Stunden die einzelnen Fächer in welchem Jahr unterrichtet werden. Ebenfalls nicht entschieden ist, ob die zweite Fremdsprache künftig erst in der Klasse 7 statt 6 hinzukommen soll.
All diese offenen Fragen machen es den Schulleitern schwer, in die Umstellungsphase einzutreten. „Das ist eine Herausforderung“, sagt Detlef von Elsenau.