Jerusalem. Die Lage im Nahen Osten eskaliert weiter: Militante aus dem Gazastreifen schießen weiter Raketen. Israel reagiert auf die Angriffe.
- Der Nahost-Konflikt destabilisert seit Jahrzehnten eine ganze Region, sorgt für Krieg, Gewalt und Vertreibung
- Nun ist die Gewalt zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas erneut eskaliert
- Die Lage am Gazastreifen und im Westjordanland bleibt angespannt
- Droht jetzt ein neuer Krieg im Nahen Osten?
Es begann am späten Montagnachmittag, dem 10. Mai, die Luft war drückend schwül, wie kurz vor einem Gewitter. Und der Donner kam. Er kam aus Gaza. In ganz Jerusalem heulten die Sirenen, die in Israel jedes Kind deuten kann: Raketenalarm.
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Ausgerechnet am Jerusalemtag, an dem die Straßen Westjerusalems voll sind mit Familien, die aus dem Umland anreisen, um den Feiertag mit Straßenkonzerten, Tänzen und Märschen zu begehen. Eltern rissen ihre Babys aus den Kinderwagen, rannten mit ihnen zum nächsten Bunker oder kauerten auf dem Boden.
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Im israelischen Parlament, der Knesset, flohen die Abgeordneten zum nächsten Schutzraum. Lesen Sie dazu: Iron Dome - so funktioniert Israels Raketenabwehrsystem.
Flugbetrieb in Tel Aviv vorübergehend eingestellt
Am Dienstagabend gingen die Angriffe dann weiter. Die Hamas feuerte nach eigenen Angaben mehr als 130 Raketen auf die Küstenmetropole Tel Aviv ab. Mindestens zwei Menschen sind dabei ums Leben gekommen. Sechs weitere wurden verletzt. Am internationalen Flughafen von Tel Aviv wurde der Flugverkehr vorübergehend eingestellt.

Zuvor reagierte die israelische Armee auf den Beschuss mit Luftangriffen auf Gaza. Dabei starben nach palästinensischen Angaben mehr als 20 Menschen, darunter auch Kinder. Die israelische Armee spricht von 15 toten Extremisten.
Als in Jerusalem die ersten Raketen niedergingen, stand fest: Das war eine neue Stufe der Eskalation. Was vor wenigen Wochen als Straßenprotest begonnen hatte, hat das Land nun an den Rand eines Krieges gebracht. Raketenalarm in den Städten nahe dem Gazastreifen, wo die radikalislamische Hamas regiert, das gab es zuletzt fast täglich. Aber in Jerusalem zum letzten Mal vor sieben Jahren – im Gazakrieg im Sommer 2014.
Israel: Warum droht erneut Krieg am Gazastreifen?
Für die neue Eskalation gibt es mehrere Gründe: Es hat mit dem Fastenmonat Ramadan zu tun, der emotional aufgeladen ist, aber auch mit den bevorstehenden Räumungen von Häusern palästinensischer Familien in Ostjerusalem.
1876 hatten dort zwei jüdische Stiftungen Land gekauft, auf dem sich das Grab von Schimon dem Gerechten befinden soll. Nachdem Jordanien Ostjerusalem 1948 erobert hatte, ließen Jordanien und die Vereinten Nationen an der Stelle im Viertel Scheich Dscharrah Wohnungen für palästinensische Flüchtlinge errichten.
Im Sechstagekrieg eroberte die israelische Armee im Juni 1967 dann Ostjerusalem. Nun klagen Siedler auf Rückgabe dieses Grundbesitzes, ein Gerichtstermin vor dem Obersten Gericht wurde jetzt vertagt. Dieser Rechtsstreit ist für viele Palästinenser ein weiteres Beispiel für die Verdrängung aus ihrer Stadt. Israel betreibt vor allem im Westjordanland aber auch in Ost-Jerusalem seit Jahren eine international heftig kritisierte Siedlungspolitik. Die UN stuft sie als Verletzung des Völkerrechts ein. Mittlerweile sollen rund 600.000 Israelis in den besetzten Gebieten leben. Die Siedlungspolitik Israels gilt als einer der schwersten Hindernisse auf dem Weg zu einer friedlichen Zwei-Staaten-Lösung.
Dass es nicht bei den Protesten blieb und die Hamas schließlich Raketen abfeuerte, hat aber vor allem innenpolitische Gründe: In zehn Tagen hätten die Palästinenser ein neues Parlament wählen sollen. Es wären die ersten Wahlen seit 16 Jahren gewesen, aber Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sagte sie ab – und schob die Schuld Israel zu, das in Ostjerusalem keine Wahlurnen aufstellen lassen wollte.

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Darüber waren viele Ostjerusalemer und die Hamas erzürnt: Die Islamisten hatten gehofft, die Fatah von Abbas bei den Wahlen zu schlagen. Die Hamas versuchte nun, die Proteste für ihre Zwecke zu nutzen und sich an die Spitze der Palästinenser zu setzen.
Auch Israels Sicherheitskräfte haben zur Wut der Palästinenser beigetragen: In Jerusalem wurden Ramadanfeiern eingeschränkt. Die Polizei ging bei Demonstrationen gegen diese Einschränkungen teils gewaltsam vor, was für neue Proteste sorgte. Dass die Polizei dann die Al-Aksa-Moschee stürmte, brachte aus der Sicht vieler Palästinenser das Fass zum Überlaufen.
Droht ein neuer Krieg wie 2014?
Die israelische Armee macht sich auf eine „unbegrenzte Eskalation“ gefasst – also auch auf Krieg. Ob es dazu kommt, werden die Ereignisse der nächsten 24 Stunden entscheiden, sagt der Tel Aviver Militärexperte Itai Brun.
Es ist eine paradoxe Situation: Denn die Eskalation war „von beiden Seiten nicht gewollt“, meint Brun. Beide Seiten hätten kein Interesse an einem Krieg. Was nicht bedeutet, dass die Menschen nun ruhig schlafen können. 2014 war die Ausgangslage ähnlich. Auch damals war es eine ungewollte Eskalation.
Ab einem gewissen Moment war es aber „sehr schwer zu deeskalieren“. Das könnte auch diesmal der Fall sein, denn die israelische Regierung und die Hamas wollen nicht schwach wirken. Irgendwann gebe es dann kein Zurück mehr – dann ist Krieg.
Was kann die internationale Gemeinschaft tun?
Darauf antworten israelische und palästinensische Politikexperten gerne mit einer Gegenfrage: „Welche Gemeinschaft?“ Die Vereinten Nationen sind gespalten. Der UN-Sicherheitsrat widmete sich den Krawallen in Jerusalem, er stand laut Insidern kurz vor einer Resolution – und dann ging der Raketenhagel los.
Auch die Europäische Union spricht nicht mit einer Stimme. Der oberste EU-Diplomat für die Palästinensergebiete, Sven Kühn von Burgsdorff, sagte am Dienstag in Jerusalem: „Die Räumungen der Wohnungen palästinensischer Familien verletzen internationales Recht.“ Die Außenminister von sechs EU-Staaten, darunter Deutschland, kritisieren vor wenigen Tagen die „fortgesetzten Zwangsräumen“ in Ostjerusalem, die die Bemühungen zum Aufbau von neuem Vertrauen „untergraben“.
Welche Folgen hat das für die Regierungsbildung in Israel?
Nach dem Scheitern von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu versucht nun Oppositionsführer Yair Lapid, eine neue israelische Regierung zu bilden. Nach ersten Fortschritten wollte er sein Kabinett noch in dieser Woche vorstellen. Doch die Eskalation in Gaza und Jerusalem stoppte die Koalitionsgespräche zwischen Islamisten, Rechtsnationalen, Konservativen und Linken am Montag.
Es ist unklar, ob die arabische Raam-Partei wieder bereit ist, ein Bündnis mit Lapid zu unterstützen, sollte die harte Reaktion der israelischen Armee andauern. Die Zeit wird knapp. Bald könnten schon wieder Wahlen drohen.
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