Berlin. Der frühere Präsident des Verfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, zweifelt an der Rechtmäßigkeit einer allgemeinen Corona-Impfpflicht.
Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit einer allgemeinen Impfpflicht geäußert. „Auf der Basis des jetzigen Wissens- und Erkenntnisstands kann man meines Erachtens nicht überzeugend begründen, dass eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit entsprechen wird“, schreibt Papier in einer Beurteilung, die unserer Redaktion vorliegt. Die Sache sei derzeit nicht entscheidungsreif.
Seit einigen Wochen werde von Politikern vollmundig die umgehende Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gefordert, kritisiert Papier. „Dabei wird fahrlässigerweise nicht bedacht, dass eine tragfähige gesetzliche Regelung, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt und die auch zügig und einigermaßen erfolgversprechend ohne langwierigen Aufbau eines bürokratischen Wasserkopfs umgesetzt werden kann, auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen wird.“
Ex-Verfassungsrichter: Impfpflicht nur für Ältere ein milderes Mittel
Die grundsätzliche Eignung einer allgemeinen Impfpflicht bestreitet Papier nicht. Zwar könnten die Impfstoffe „nicht verhindern, dass geimpfte Personen sich infizieren und diese Infektion an andere Personen, selbst wenn diese vollständig geimpft sind, weitergeben“. Allerdings würden die Impfungen das Risiko schwerer oder tödlich endender Erkrankungen nach übereinstimmender Auffassung weitgehend verhindern – und damit das Gesundheitssystem entlasten und vor dem Kollabieren schützen.
Mit Blick auf die Erforderlichkeit einer Impfpflicht indes verlangt Papier eine Klärung, „ob infolge der Omikron-Mutante oder möglicherweise neuer in der Zukunft auftretender Mutanten ohne allgemeine Impfung immer noch schwerwiegende Erkrankungen in nennenswertem Umfang zu befürchten wären“. In jedem Fall, so der einstige Verfassungsrichter, wäre eine Begrenzung der Impfpflicht auf die älteren Personengruppen ein milderes Mittel.
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Die Verhältnismäßigkeit der Grundrechtseingriffe sei „sehr unterschiedlich – je nachdem, ob es bei einer Impfung um einen mehr oder weniger einmaligen Vorgang oder ob es um stetig zu wiederholende Impfungen der Bürgerinnen und Bürger mit möglicherweise nur eingeschränkt wirkenden Impfstoffen geht“, macht Papier deutlich. Auch diese Frage sei gegenwärtig offen.
Papier befürchtet bei Strafverfolgung „Überflutung“ der Justiz
Darüber hinaus verweist Papier auf Schwierigkeiten, die mit der Sanktionierung von Verstößen verbunden wären. „Diese folgen schon daraus, dass ein zentrales Impfregister nicht existiert und ohne größeren zeitlichen und kapazitätsmäßigen Aufwand auch nicht ausgebaut werden könnte“, schreibt der Verfassungsjurist. Impfverweigerer blieben in aller Regel den Behörden unbekannt. „Hier auf eine stichprobenartige Kontrolle zu setzen, erscheint mir ziemlich sinnlos zu sein.“
Die Verhängung von Bußgeldern für Impfverweigerer sei überdies mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden – und mögliche Klagen könnten zu einer „Überflutung“ der Justiz führen. Daher stelle sich die Frage, so Papier, ob eine solche Impfpflicht gegen das Coronavirus „ein wirklich geeignetes und verhältnismäßiges Mittel sein kann, um die intendierten Ziele und Zwecke innerhalb eines engen Zeitrahmens zu erreichen“.
Eine allgemeine Impfpflicht war von führenden Politikern der Ampel-Koalition lange ausgeschlossen worden – angesichts steigender Infektionszahlen und einer stagnierenden Impfquote erfolgte allerdings ein Kurswechsel.
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Ampel-Koalition in Sachen Impfpflicht uneinig
Der Zeitplan indes ist nach wie vor unklar. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte zunächst „Anfang Februar oder Anfang März“ als Datum für die Einführung genannt, dies gilt inzwischen als unrealistisch. Über die Regelungen soll der Bundestag nach Plänen von SPD, FDP und Grünen in freier Abstimmung ohne Fraktionsvorgaben entscheiden.
Hintergrund sind unterschiedliche Positionen in den Ampel-Reihen – vor allem aus den Reihen der FDP sind Vorbehalte laut geworden. Ende Januar wird es wohl zunächst eine offene „Orientierungsdebatte“ über das ethisch sensible Thema geben.
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