Essen. Ein Jahr Krieg bedeutet auch ein Jahr Hilflosigkeit. Gleichgültig macht das die Wenigsten. Warum wir stolz auf uns und Olaf Scholz sein können.
Drei Seiten Ukraine in der gedruckten WAZ am Freitag, dem Jahrestag des russischen Angriffskrieges, sowie mehrere Artikel zum Thema auf der Startseite von waz.de. War das zu viel – angesichts der Tatsache, dass wir in den Tagen zuvor auch schon ausführlichst berichtet hatten? Interessiert das unsere Leserinnen und Leser noch in diesem Maße? Diese Frage stellten einige Kolleginnen und Kollegen in der jüngsten Redaktionskonferenz. Wie so oft gab es keine einheitliche, allgemeingültige Antwort darauf.
Meine These ist: Es gibt einen riesigen Verdruss in der Bevölkerung, wenn es um diesen Krieg geht – aber nicht deswegen, weil man davon nichts mehr hören und lesen will, sondern weil er so offensichtlich sinn- und aussichtslos ist. Auch der angebliche Friedensplan der Chinesen, mit viel Tamtam angekündigt, ist das Papier nicht wert, auf dem er steht. Gelesen, gewundert, gelocht: Ab in den Ordner mit dem großen „P“ für „Propaganda“! Neue Aussichten? Fehlanzeige.
Solidarität made in Ruhrgebiet
Ein Jahr nach Kriegsbeginn überwältigen uns noch immer Gefühle wie Trauer und Entsetzen über die Kriegsgräuel sowie Wut über diesen skrupellosen Verbrecher im Kreml. Viele fühlen Hilflosigkeit, und manche mögen sich dann in Gleichgültigkeit retten. Alle Rückmeldungen, die uns erreichen, deuten aber zum Glück darauf hin, dass die wenigsten WAZ-Leserinnen und -Leser gleichgültig sind. Ganz im Gegenteil. Sie wollen informiert bleiben.
Nicht wenige ziehen aus ihren Emotionen Energie für konkrete Hilfestellungen. Im Krieg mögen manche Menschen ihre fiesen Fratzen zeigen. Gerade im Ruhrgebiet, wo man gelernt hat, was Solidarität bedeutet, hat dieser Krieg aus vielen das Beste hervorgeholt.
Beispiele aus Oberhausen, Essen, Witten
Erinnert sei exemplarisch an eine Familie in Oberhausen, die nach Ausbruch des Krieges spontan drei Familien aufnahm, elf Menschen: Großeltern, Mütter mit ihren Kindern zwischen sechs und 20 Jahren. Erinnert sei an den Unternehmer in Essen, der die wegen der Corona-Krise ungenutzten Büroräume im Steeler Wasserturm für eine Familie aus der Ukraine freiräumte. Erinnert sei an den Eigentümer in Witten, der sein Haus nicht vermietete, wie ursprünglich geplant, sondern geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern zur Verfügung stellte.
Von Januar bis November 2022 sind laut Wanderungsstatistik des Statistischen Landesamts (IT.NRW) 220.600 Personen aus der Ukraine nach NRW gezogen, meist Frauen und Kinder. Mehr als die Hälfte dieser Menschen flüchtete direkt nach Beginn des Kriegs in den Monaten März, April und Mai zu uns. Von Januar bis November 2022 kehrten 22.300 ukrainische Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurück. Wir haben rund 200.000 Menschen bei uns aufgenommen, versorgt, bestmöglich integriert. Bei aller gefühlten Hilflosigkeit können wir durchaus stolz darauf sein, was wir in diesem Jahr geleistet haben, um Leid ganz konkret zu mildern.
Polens Regierung fehlen ein paar Tassen
Stolz sein können wir auch auf Deutschland insgesamt. Kein Land in Kontinentaleuropa hat in den vergangenen zwölf Monaten unter humanitären, politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gesichtspunkten mehr für die Ukraine getan. Die unverhohlene Deutschlandfeindlichkeit der polnischen Regierung, die in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit noch eine Menge nachzuholen hat, ist in diesem Zusammenhang schwer zu ertragen. Wenn der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki etwa sagt, Deutschland versuche bei der Ukraine-Hilfe „halb schwanger“ zu sein, dann hat er schlicht nicht alle Tassen im Schrank.
Bundeskanzler Olaf Scholz drückte es bei Maybritt Illner am Donnerstagabend im ZDF zwar etwas diplomatischer, für seine Verhältnisse aber durchaus deftig aus: „Gestatten Sie mir, das ein bisschen lächerlich zu finden“, sagte er. Er wünsche sich zwar, „dass sich das deutsch-polnische Verhältnis weiterentwickelt“. Aber solche Vorwürfe müsse man nicht auf sich sitzen lassen. Recht hat er.
Scholz lässt sich nicht kirre machen
Es ist noch nicht lange her, da hatte Polen, um den Druck auf Deutschland zu erhöhen, mit einer Panzer-Koalition ohne Deutschland gedroht. Nun schafft Warschau es nur mit Ach und Krach, erste eigene Leopard-2-Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern. Der, der andere nötigt, aufs Gas zu treten, entpuppt sich als größter Bremser. Wer will Scholz da verdenken, wenn er einmal mehr beteuert, sich von Lautsprechern im In- und Ausland nicht „kirre machen“ zu lassen, wie er bei Illner versprach. Dies werde auch für die Zukunft gelten, denn, auch da war der Kanzler unmissverständlich, dieser Krieg könne noch lange dauern.
Kurt Kister, der frühere Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, beschrieb die trüben Aussichten in einem Kommentar jetzt treffend so: Mit Putin könne es „keinen Verständigungsfrieden, sondern höchstens einen Erschöpfungswaffenstillstand geben“.
Und am 24. Februar 2024?
Die 41-jährige Tetjana Starchenko stammt aus der Millionenstadt Charkiw, unweit der aktuellen Frontlinie, und lebt heute in Herne mit Mann und Kind. Sie wirkt erschöpft. „Für uns gibt es keinen Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. Für uns ist immer Februar“, sagt sie im Gespräch mit unserem WAZ-Reporter. Die Zeit sei quasi erstarrt seit dem 24. Februar 2022. „Wir machen keine Pläne mehr“, erzählt sie. „Wie planen maximal von Woche zu Woche. Wir leben nur noch im Heute, weil wir nicht wissen, was morgen sein wird.“
Was wird morgen sein? Was wird in einem Monat, in einem Jahr sein? Was schreiben wir in der WAZ am 24. Februar 2024? Vielleicht dies: dass Tetjana wieder Pläne macht. Wir wünschen es ihr und uns so sehr.
Auf bald.
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: klartext