Essen. Polizeigewalt!, hallt es durch die Nation dank einer Studie dazu. Sind Polizisten nicht eher die Opfer von Gewalt? Die Wahrheit ist überraschend.
Streifenfahrt durch Bochum-Hofstede in einer kalten Winternacht. Da fällt den beiden Polizeibeamten ein Streit zwischen jungen Männern auf einem Tankstellengelände auf. Die Polizisten schreiten ein. Schnell eskaliert die Situation. Einer der Beteiligten, ein angetrunkener 20-Jähriger, tritt die Beamten, schlägt ihnen ins Gesicht und gegen den Kehlkopf – und garniert das alles mit heftigsten Beleidigungen. Die Polizisten sind danach einige Tage dienstunfähig. Das Jugendgericht verurteilt den 20-Jährigen anschließend. Aber ins Gefängnis muss der Schläger nicht. 40 Sozialstunden und ein Anti-Aggressionstraining sollen genügen. Schließlich gehe es in erster Linie um Erziehung, nicht um Strafe.
Wer will Polizeibeamten angesichts solcher Fälle eigentlich verdenken, wenn sie sich wie die Prügelknaben der Nation vorkommen?
Empörung bei der GdP
Die „Prügelknaben der Nation“ – das Bild bekommt durch eine neue Studie, in der es nun umgekehrt um Gewalt geht, die von Polizeibeamten ausgeht, einen ganz neuen Dreh. 90 Prozent aller Verfahren gegen beschuldigte Polizistinnen und Polizisten würden eingestellt, heißt es; nur in zwei Prozent der Fälle werde Anklage erhoben. Empörung macht sich breit in Kreisen der Polizei. Die Studie sei einseitig, unseriös, ungerecht, abenteuerlich. Gewerkschaftsvertreter machen ihrem Ärger Luft. Ich kann sie verstehen.
Haben wir eigentlich noch alle Tassen im Schrank, ausgerechnet jetzt, wo unsere Einsatzkräfte immer ungenierter auf offener Straße angegriffen werden, die Dinge derart zu verdrehen, aus Opfern Täter zu machen?
Ganz so einfach, Sie ahnen es schon, ist es freilich nicht. Dass Gewalt gegen Polizeibeamte, aber auch gegen Feuerwehrleute und andere Rettungskräfte, ständig zunimmt, ist ein unbestrittener Sachverhalt. Die Ausschreitungen zu Silvester sind immer wieder traurige Höhepunkte dieser Entwicklung, nicht zuletzt im Ruhrgebiet. Die WAZ berichtet darüber, analysiert, kommentiert dazu auf allen Kanälen, immer und immer wieder. Unsere Haltung ist sonnenklar: Wie stehen hinter unseren Beamtinnen und Beamten.
Jeden Tag eine Beleidigung
„Jeden Tag wird ein Polizist im Dienst beleidigt“, war die Schlagzeile eines Berichtes unserer Bottroper Lokalredaktion vom 14. April. Gegen 832 Einsatzkräfte sei im vergangenen Jahr allein im Bereich des Polizeipräsidiums Recklinghausen Gewalt verübt worden. Das ist nach Angaben des Präsidiums die höchste Zahl seit etlichen Jahren.
Unvergessen sind auch die Ausschreitungen rund um den rheinischen Braunkohle-Tagebau Lützerath im Januar. Von der Kundgebungsbühne aus wurden Demonstranten aufgefordert, sich „von der Polizei nicht aufhalten“ zu lassen. „Macht alles, was ihr für richtig haltet“, schallte es durch die Lautsprecher. Nicht wenige verstanden das als Freibrief für Gewalt gegen die Staatsgewalt, während letzterer prompt vorgeworfen wurde, sie sei gegen wehrlose Protestierende zu hart vorgegangen. Viel blieb von den Vorwürfen gegen die Polizei am Ende bekanntlich nicht übrig. Die Vorurteilsmaschine hatte trotzdem ganze Arbeit geleistet.
„Vorurteile statt Fakten“
Genau das ist nun auch die Kritik der Gewerkschaft der Polizei (GdP) an der Studie von Tobias Singelnstein, der 2018 ein umfassendes Forschungsprojekt zur Polizeigewalt an der Ruhr-Universität Bochum gestartet hatte. Der Kriminologe arbeite „oft mit Vorurteilen statt Fakten“, findet GdP-NRW-Vizechef Michael Maatz. Ganz von der Hand weisen lässt sich das nicht.
Dass Menschen, die die Staatsgewalt körperlich zu spüren bekommen, dies unangemessen finden, ist erst einmal kaum verwunderlich, fast schon trivial. Wenn es aber tatsächlich zu übersteigerter Gewalt durch die Polizei gekommen ist und diese trotzdem nicht angezeigt wird, weil man nicht an den Erfolg einer Anzeige glaubt, dann ist das für sich kein Beweis für den Misserfolg von Anzeigen, sondern für den Glauben an den Misserfolg – mithin für ein mögliches Vorurteil, das die (nicht repräsentative!) Studie sogar noch zementiert.
Tödliche Schüsse von Dortmund
Andererseits: Dass Polizeibeamte, weil sie auch nur Menschen sind (manche von ihnen vielleicht sogar schlechte Menschen), Fehler machen, dass sie vielfach überfordert und manchmal auch nicht gut genug ausgebildet sind – all das ist klar. Die tödlichen Schüsse auf einen 16-Jährigen in Dortmund markieren einen extremen Fall mutmaßlichen polizeilichen Fehlverhaltens.
Fast 3000 Ermittlungen zählten die Staatsanwaltschaften in Deutschland pro Jahr wegen Polizeigewalt. Es ist eine Binse, dass die Dunkelziffer weit darüber liegt. Das einfach abzutun, gar beleidigt zu sein, hilft der Polizei und ihren Interessenvertretern nicht weiter. Die GdP wäre darum gut beraten, es nicht bei reflexartiger Kritik an der Studie zu belassen, sondern sich mit ihr ernsthaft auseinanderzusetzen. Es gibt nun einmal beides: die Gewalt gegen Polizei und die (ungerechtfertigte) Gewalt durch Polizei. Das Problembewusstsein für Letzteres ist bei der GdP, nun ja, unterausgebildet.
Unabhängige Behörde
Dabei liegt der entscheidende Knackpunkt, dessen Beseitigung schnell für viel mehr Vertrauen sorgen würde, auf der Hand. Es ist schlicht ein Unding, dass bei einem Verdacht unrechtmäßiger Gewaltausübung durch Polizisten andere Polizisten ermitteln, also Kollegen gegen Kollegen vorgehen sollen, auch wenn es sich jeweils um Kollegen aus anderen Dienststellen handelt. Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass das keine gute Idee ist. Die Dänen haben darum schon vor mehr als zehn Jahren eine unabhängige Behörde für Beschwerden gegen die Polizei eingerichtet. Was spricht eigentlich dagegen, dies endlich auch bei uns zu tun?
Die Antwort ist einfach: nichts.
Auf bald.
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