"Anne Will": Merkel rüffelt Laschet wegen Notbremsen-Regel
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Georg Altrogge
Wer ist Anne Will?
Wer ist Anne Will?
Sie ist die erste Frau, die je die Sportschau moderierte. Hier erfahren Sie alles über den Werdegang der deutschen Fernsehjournalistin.
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Berlin.Kanzlerin Merkel plant bundeseinheitliche Maßnahmen für schärfere Kontaktbeschränkungen. Kritik auch an NRW-Ministerpräsident Laschet.
Nach der Kritik an ihrem Corona-Management stellte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel am Sonntag den Fragen von Anne Will
60 Minuten lang stellte Will der Kanzlerin Fragen – allerdings oft die falschen
Das Urteil unseres Autors: Anne Will hat bei dem Interview eine Chance verpasst
Bei Journalisten gilt Angela Merkel als Herausforderung: Sie gibt selten Interviews, beschwört häufig abstrakte Ziele und redet diplomatisch, wo sich Berichterstatter Klartext wünschen. Bei „Anne Will“ war am Sonntagabend eine andere Bundeskanzlerin zu sehen: kämpferisch, kritisch und zu drastischen Maßnahmen gegen Unternehmen und Bundesländer entschlossen, die in der Pandemie den Ernst der Lage verkennen.
Leider saß ihr eine Moderatorin gegenüber, die diese große Chance versiebte: Statt in den entscheidenden Punkten nachzuhaken, stellte Anne Will stets im richtigen Moment die falsche Frage – nur einmal entlockte sie der Regierungschefin eine überraschende Antwort.
Zweimal, 2015 und 2016, hatte die Kanzlerin dort ihre Strategie in der Flüchtlingskrise gerechtfertigt.
2018 sprach sie dort über die schwierige Außenpolitik der EU in der Ära Trump.
Alle drei Male stand sie unter dem Druck massiver innenpolitischer Kritik – aber keine der Krisen reicht auch nur ansatzweise an die Komplexität der aktuellen Probleme heran.
Merkel kritisiert laschen Umgang mit „Notbremse“-Verordnung
Schon vor dem TV-Talk war absehbar, dass die Bundeskanzlerin das Interview zur Vorwärtsverteidigung nutzen würde. Das Debakel um die überhastet beschlossene und tags darauf wieder einkassierte „Osterruhe“, der Absturz der Union in Umfragen um mehr als 10 Prozent, die Masken-Korruption, eine immer noch fehlende Teststrategie oder der schleppende Impfverlauf: Ihre Regierung hat einen galoppierenden Ansehensverlust hinnehmen müssen, und Merkel ließ zu Beginn keinen Zweifel daran, dass sie dies auch in den letzten sechs Monaten ihrer Amtszeit nicht hinzunehmen bereit sei.
Die Kanzlerin bemängelt, dass die „Notbremsen“-Verordnung „nicht überall eingehalten wird“ und deutet eine Zäsur und schärfere Gesetze an.Für jeden erfahrenen Interviewer sind solche Aussagen eine Steilvorlage. Was konkret haben Sie vor? Welche Veränderungen streben Sie an? Einfache, offene Fragen – die Anne Will nicht stellte.
Sie fragt stattdessen: „Werden Sie jetzt die Verfassung ändern und die Macht an sich reißen?“ Und die Moderatorin diskutierte in der Folge quasi mit sich selbst und erklärte, sie habe lange überlegt, wie sie das Interview hätte anlegen können – nämlich als Gegenposition, die für mehr Lockerungen plädiert. Sie habe sich aber entschieden „im Kosmos“ der Kanzlerin zu bleiben. Nächste Frage, jetzt an die Kanzlerin: „Geben Sie sich gerade auf?“ Angela Merkel schaute verständnislos. Natürlich nicht.
Merkel spricht bei "Anne Will" von Ausgangsbeschränkungen
Noch einmal kam die Politikerin auf ihr zentrales Anliegen zurück. „Ausgangsbeschränkungen und weitere Kontaktbeschränkungen plus Testen“, so Merkel, „können ein wirksames Mittel zur Pandemie-Bekämpfung sein.“ Allerdings zögen nicht alle am gleichen Strang. Oder, wie sie es ausdrückte: „Mit dem Enthusiasmus der Umsetzung der freiwilligen Selbstverpflichtung“ der Wirtschaft zum Home-Office und obligatorischen Testen sei sie „nicht so zufrieden“. Da käme eine Änderung der Arbeitsschutzverordnung in Betracht.
Auch die Handhabung der mit den Bundesländern vereinbarten Notbremse bei steigenden Inzidenz-Zahlen müsse jetzt „bundeseinheitlich geregelt“ werden. Sie denke darüber nach, dies „qua Gesetz“ zu tun. Das hieße: bundesweit verbindliche abendliche Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen.
Hätte Moderatorin Will hier nachgefragt, hätte ihre Sendung womöglich eine Schlagzeile für die Medien geliefert. Sie tat es nicht, jedenfalls nicht so halbwegs präzise, dass sie der Bundeskanzlerin zu jener Aussage gebracht hätte, die unausgesprochen in der Luft hing.
Das ist Bundeskanzlerin Angela Merkel
Merkel: Schwächen Deutschlands sind in der Pandemie offensichtlich
Will sprach dafür über die Inzidenz-Zahlen in Portugal, von Mega-Lockdown und über Stränden patrouillierenden Hubschraubern, und fragte: „Bräuchte es das hier nicht auch?“ Die Bundeskanzlerin erklärte, dass Maßnahmen im föderalen Staat nicht so einfach funktionieren: „Wir brauchen immer Bund und Länder zusammen.“
Sie müsse „immer einen Weg gehen, wo ich nicht die Hälfte der Länder gegen mich habe“. Erkenntnis der Kanzlerin: „Die Schwächen dieses Landes sind in der Pandemie offensichtlich geworden.“
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Merkel: „Ich kann nicht per Ordre du Mufti entscheiden“
Merkel nahm einen neuen Anlauf, ihre Ungeduld zu signalisieren: „Ich werde jetzt nicht 14 Tage tatenlos zusehen, dass nichts passiert. Wir werden handeln müssen.“ Wieder ließ die Moderatorin den Moment passieren, präsentierte umständlich Umfrageergebnisse und kam auf die missratene Ministerpräsidenten-Konferenz Anfang der Woche zurück. Frage von Will an Merkel: „War es eine Zäsur oder ein Autoritätsverlust?“ Und: Sei die ganze Runde nicht „organisierte Verantwortungslosigkeit“, vertraue sie den Ministerpräsidenten eigentlich noch? Was antwortet eine Regierungschefin darauf? Jedenfalls nichts, was es am nächsten Tag in die Berichterstattung schafft.
Sie könne nicht „per Ordre du Mufti“ entscheiden, erklärte Merkel, aber: „Es wird dazu kommen, dass wir das Richtige machen. Dafür stehe ich ein. Ich werde nicht zuschauen, dass wir gleichzeitig 100.000 Infizierte haben.“
Jetzt wäre es für die ARD-Zuschauer wie die ganze Republik sehr interessant gewesen zu erfahren, was genau die Bundeskanzlerin tun will, um das zu verhindern. Dafür hätte aber jemand nachfragen müssen - was bei „Anne Will“ nicht geschah. So durfte Merkel stattdessen ihre Aussagen der vergangenen Monate wiederholen, dass zwar „vieles besser gemacht werden“ könnte, aber „nicht alles schlecht sei“. Anwendbar aufs Impfen, Testen, auf die EU oder auf Deutschland. Erkenntnisgewinn hier und heute: null.
Zum Ende der Sendezeit stellte Anne Will gleich sechs Fragen auf einmal, abgelesen vom Moderationszettel: nach dem Verschieben von Verantwortung, dem schleppenden Impfen und Testen, den Schulkindern, den paradoxen Reise-Regelungen, fehlenden Wirtschaftshilfen und Masken-Korruption – woraufhin die Kanzlerin trocken entgegnete: „Sie haben jetzt eine Vielzahl von Dingen benannt.“ Was die Gastgeberin nicht davon abhielt, mit Verweis auf das aktuelle Umfragetief nachzulegen: „Kostet das die Union das Kanzleramt?“ Merkel: „Die CDU hat keinen Rechtsanspruch auf das Kanzleramt.“
So blieb der Kanzlerin-Auftritt bei „Anne Will“ weit unter den Möglichkeiten. Immerhin beim Thema „Notbremse“ konnte die Moderatorin punkten, als sie Merkel mit der lockeren Auslegung der Beschlüsse durch den CDU-Vorsitzenden und nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten konfrontierte.
Es gebe da keinen Ermessensspielraum, so die Bundeskanzlerin. „Also verstößt Armin Laschet gegen die Regel, die Sie sich gegeben haben?“ fragte Will. Merkel: „Ja, aber er ist nicht der Einzige.“ Angesichts der krawalligen Grundstimmung im Kanzleramt wird man dies in CDU-Kreisen mit Sorge registrieren. Wer Merkel kennt, ahnt: Da wird noch was kommen.
Dass wir nicht wissen, was das sein könnte und was die Kanzlerin konkret plant, hängt möglicherweise nach diesem Abend damit zusammen, dass die naheliegenden klaren Fragen nicht gestellt wurden – etwa die nach einer Entlassung ihres angeschossenen Bundesgesundheitsministers. Die, wann denn eigentlich die ewig versprochenen Tests für alle kommen oder die, ab wann die Hausärzte nun endlich impfen und wo der ganze Impfstoff genau herkommen wird. „Anne Will“ an diesem Sonntag zeigte, dass vom Spickzettel abgelesene Fragen und wiederholtes Unterbrechen einer Bundeskanzlerin eben kein Ausdruck von Journalismus sind. Schade drum, da wäre mehr drin gewesen.